Interview mit Mira Vasileva
vom Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation in Bremen (Dr. Petermann)
Frau Vaiselva leitet eine Pflegekinderstudie zum Thema "posttraumatische Belastungsstörungen von Kindern".
Frage: Sie wollen in Ihrer Studie untersuchen, ob eine Pflegefamilie die richtige Hilfe ist für Kinder mit posttraumatischer Belastungsstörung und was eine Pflegefamilie in der Arbeit mit diesen Kindern leisten muss. Habe ich das so richtig verstanden?
Antwort: Unsere Annahme ist, dass Kinder, die sehr früh aus der Herkunftsfamilie herausgenommen werden, deren Wohl also besonders beeinträchtigt war, in Pflegefamilien zwar bessere Entwicklungschancen und Entwicklungsbedingungen erleben. Dennoch werden ihre traumatischen Erfahrungen ihr Leben und ihre künftige Entwicklung beeinflussen. Diese Erfahrungen beeinflussen auch die Beziehungen zu den Pflegeeltern. Wir wollen darum wissen, welche Merkmale einer Pflegefamilie für eine erfolgreiche Verarbeitung traumatischer Erfahrungen besonders wichtig sind. Dadurch sollen dann Pflegeeltern auf diese Punkte besser vorbereitet werden.
Frage: Wir erleben auch oftmals, dass nach Jahren des Zusammenlebens der Pflegeeltern mit dem traumatisierten Kind festgestellt wird, dass unzureichend mit dem Kind gearbeitet wurde. Was kann Ihre Studie da tun, um eine solche Entwicklung zu verhindern?
Antwort: Pflegeeltern haben häufig nicht genug Informationen darüber, was mit dem Kind passiert ist, was es braucht. Ein erster Schritt ist festzustellen, ob eine posttraumatische Belastungsstörung besteht. Einige Jugendämter haben eine standardisierte Eingangsdiagnostik, die auch diese Fragen umfasst - aber eben nicht alle. Die Pflegeeltern müssen besser vorbereitet werden. Es ist dramatisch, wenn Pflegeeltern Gutes und Liebe geben wollen und können, dann aber ein Kind mit gestörtem Bindungsverhalten erleben, das keine Nähe sucht, sondern die Pflegeeltern ablehnt. Wenn man damit nicht richtig umgeht, kommt es oft zu Abbrüchen. Die sind ganz furchtbar für Kinder.
Frage: Warum sind denn Pflegeeltern oft so schlecht informiert?
Antwort: Pflegeeltern und Pflegeelternbewerber stehen unter einem enormen Druck. Sie wollen für das Kind verantwortlich sein, lernen die leiblichen Eltern kennen und sollen auch mit ihnen zusammenarbeiten. Auch dann, wenn die leiblichen Eltern eigentlich das Kind selbst betreuen wollen. Pflegefamilien arbeiten mit dem Jugendamt zusammen und machen sich als Familie öffentlich. Sie fühlen Druck von vielen Seiten. Da kommt es vor, dass die Kommunikation mit dem Jugendamt gerade am Anfang der Beziehung, nicht klappt.
Frage: Wie wichtig ist es, Pflegeeltern über die Geschichte des Kindes, über traumatische Vorerfahrungen, über die Gründe der Herausnahme oder auch die gesundheitliche Situation der leiblichen Eltern, Beispiel Alkohol in der Schwangerschaft, zu informieren?
Antwort: Das ist unbedingt notwendig. Damit die Pflegeeltern richtig reagieren und nicht alles gleich persönlich nehmen. Es ist nun mal nicht so, dass die Beziehung zum Kind deshalb nicht gut läuft, weil die Pflegeeltern „schlechte” Eltern sind, sondern weil das Kind zuvor zu viel erlebt hat. Da das Kind von seinen (neuen) Bezugspersonen abhängig ist, kann es sein, dass es noch nicht gelernt hat, richtig zu reagieren.
Frage: Sie konzentrieren sich in Ihrer Studie auf Kinder mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ausgenommen sind traumatisierte Kinder durch Vernachlässigung. Warum?
Antwort: Wir haben uns an die Leitlinien der beiden gängigen Klassifikationssysteme gehalten. Da steht das Trauma durch auslösende Ereignisse im Vordergrund. Das bedeutet natürlich nicht, dass Vernachlässigung keine Auswirkung auf die Entwicklungen und die Psyche des Kindes hat. Letztlich haben wir uns schlicht auf die posttraumatische Belastungsstörung spezialisiert. Alles kann man mit einer einzigen Studie leider nicht schaffen.
Frage: Wenn Pflegeeltern nicht wissen, ob es sich um traumatische Vorerfahrungen durch Vernachlässigung oder eine (echte) posttraumatische Belastungsstörung handelt, können die auch an der Studie teilnehmen?
Antwort: Ja, auf jeden Fall. Wir möchten herausfinden, wie häufig die posttraumatische Belastungsstörung vorliegt. Deswegen brauchen wir auch eine große Anzahl von Kindern zwischen 3 und 6 Jahren, die teilnehmen. Auch Kinder, die nichts Schlimmes erlebt haben. Ich habe die Fragebögen, die bis jetzt eingegangen sind, schon mal ein wenig ausgewertet. Das ist natürlich nur eine Stichprobe, aber es ist interessant zu sehen, dass manche Pflegeeltern, die von keinem traumatischen Ereignis berichten, dennoch von traumatischen Belastungsstörungen im auffälligen Bereich erzählen.
Frage: Dabei ist aber unklar, ob dieses durch ein einmaliges Ereignis oder durch eine längere Vernachlässigung ausgelöst wurde?
Antwort: Richtig. Die bezeichneten Pflegeeltern haben angegeben, dass es keine lebensbedrohlichen Umstände gibt. Dennoch merken sie Auffälligkeiten hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dem Kind. Es kann einerseits sein, dass sie diese Verhaltensweisen auf die Vernachlässigung zurückführen oder aber, dass sie einfach keine Kenntnis über traumatische Erfahrungen des Pflegekindes haben.
Frage: Was braucht denn ein Kind mit einer posttraumatischen Belastungserfahrung?
Antwort: Es gibt Vorschläge für eine traumasensible Pädagogik in der Jugendhilfe, die dem Kind Stabilität, Struktur und Sicherheit anbietet. Solche Vorschläge und die bisherigen Forschungsergebnisse beziehen sich bisher (nur) auf Kinder die älter als 12 Jahre oder im Schulalter sind. Bei der Bewältigung von Traumata gibt es im Allgemeinen drei wichtige Aspekte zu beachten: Zunächst die Stabilisierung des Kindes. Dann die Auseinandersetzung mit dem Trauma. Zuletzt ist es wichtig, dass das Kind das Ereignis in sein Leben integriert und damit umzugehen lernt. Gerade bei Kindern in jungem Alter, bei denen es weniger therapeutische Möglichkeiten gibt, weil ihre kognitiven Fähigkeiten noch nicht ausgereift sind, ist es besonders wichtig auf die Stabilisierung zu achten. Diese Stabilisierung kann natürlich nur in der sozialen Umgebung und durch die aktuellen Bezugspersonen stattfinden.
Frage: Also muss man nicht am Kind ansetzen, sondern an den Bezugspersonen?
Antwort: Ja.
Frage: Kann man denn bei kleinen Kindern überhaupt pädagogisch etwas erreichen? Geht das nicht nur psychologisch?
Antwort: Das ist schwer abzugrenzen. Alle Personen, die mit dem Kind etwas zu tun haben, müssen diesem Kind Struktur, Sicherheit und vor allem Zuneigung geben. Nicht nur die Pflegeeltern, auch die Erzieher und Erzieherinnen in Kindergärten oder die Lehrer/innen. Wobei es natürlich auch schon Ansätze gibt, in diesem frühen Alter psychotherapeutisch zu arbeiten.
Frage: Wie wichtig ist denn, neben der stabilisierenden Pädagogik, die Fähigkeit der Pflegeeltern, ein auffälliges Kind psychologisch aufzufangen, zu tragen, zu begleiten, das Thema Trauma zu thematisieren? Alles psychologische Ansätze.
Antwort: Es ist schwierig, auch für Pflegeeltern, mit einem Kind richtig psychologisch zu arbeiten. Die Eltern haben eben eine andere Beziehung zum Kind als psychologische Fachleute. Darum finde ich es nicht schlimm, wenn sie (nur) pädagogisch arbeiten. Das schließt natürlich nicht aus, eine sichere Beziehung mit dem Kind aufzubauen, ihm Zuneigung, Wärme und Sicherheit zu geben. Dennoch ist ein grundsätzliches Verständnis von Trauma und posttraumatischer Belastungsstörung wichtig. Damit Eltern richtig reagieren, müssen sie das Verhalten des Kindes auch nachvollziehen können.
Frage: Welche Rolle spielt der Kontakt zu den leiblichen Eltern bei Kindern mit posttraumatischen Belastungsstörungen?
Antwort: Studien zeigen, dass der Kontakt zu den leiblichen Eltern positive Einflüsse hat. Der abrupte Abbruch einer Beziehung und die posttraumatische Belastungsstörung aufzufangen, sind für die Pflegekinder in der Regel zu viel. Das ist natürlich sehr schwierig. Denn die Pflegeeltern sollen einerseits dafür sorgen, dass ein regelmäßiger Kontakt zu den leiblichen Eltern stattfindet, und andererseits zum Kind eine Beziehung aufbauen, als ob es ihr eigenes Kind sei. Auf jeden Fall zeigen Studien, dass der Kontakt zu den leiblichen Eltern gut ist, wenn er regelmäßig ist.
Frage: Gilt das auch für Kinder, die direkt nach der Geburt in eine Pflegefamilie kamen?
Antwort: Dazu kann ich nichts sagen. Da kenne ich mich zu wenig aus. Ich habe über die Kinder im Vorschulalter gelesen. Aber die Frage ist wichtig und interessant.
Frage: Wie ist mit dem Thema Umgang umzugehen, wenn die posttraumatische Belastungsstörung durch ein Verhalten der leiblichen Eltern verursacht ist?
Antwort: Da gibt es immer wieder heftige Diskussionen. Einerseits hat das Kind gelitten durch die Eltern. Andererseits sind es aber eben die leiblichen Eltern, die die Bezugspersonen der Kinder waren und immer noch sind. Es ist schwierig, diesen Konflikt aufzulösen.
Frage: Wir haben gerade von einem Säugling erfahren, der im Alter von zwei Monaten mit 26 Knochenbrüchen aus der leiblichen Familie herausgenommen wurde. Was soll man da der leiblichen Mutter sagen, die Umgang mit dem Kind wünscht?
Antwort: Ich persönlich würde sagen, dass es zum Wohl des Kindes am besten ist, dass ein Kontakt zu den leiblichen Eltern nicht stattfindet. Aber das ist das Schwierige mit Studienergebnissen. Dort konzentriert man sich auf den Durchschnitt und nicht auf Einzelfälle.
Frage: Wie versuchen Sie Pflegeeltern davon zu überzeugen, an der Studie teilnehmen?
Antwort: Die Teilnahme ist natürlich freiwillig. Pflegeeltern sind nach unserer bisherigen Erfahrung besonders engagierte und hilfsbereite Menschen. Schon deswegen erwarten wir eine gute Teilnahme, auch wenn wir keine besondere Werbung machen. Natürlich wünschen wir uns, dass die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, wie hoch die Belastung für Pflegeeltern ist. Vor allem für Pflegeeltern, die ein Kind mit einer posttraumatischen Belastungsstörung haben. Wenn Veränderungen stattfinden sollen, brauchen wir Forschungsergebnisse. Dann sehen die Jugendämter, was den Kindern eigentlich passiert ist und was Pflegeeltern brauchen. Wir lesen so oft in der Zeitung von gefährdeten und vernachlässigten Kindern. Auch von ganz jungen Kindern. Aber es gibt keine Forschungsergebnisse dazu. Wir wünschen uns, dass durch unsere Forschung die Aufmerksamkeit auf diese Situation und die Bedürfnisse sowohl der Pflegekinder als auch der Pflegeeltern gelenkt wird.
Frage: Also auch Pflegeeltern, die nicht so genau wissen, was ihrem Kind widerfahren ist, können an der Umfrage teilnehmen?
Antwort: Sie können gerne an der Umfrage teilnehmen. Wie gesagt: Es könnte sein, dass Auffälligkeiten bestehen, auch wenn kein traumatisches Ereignis bekannt ist. Außerdem müssen wir sehen, wie häufig etwas zutrifft. Dafür brauchen wir die Gesamtheit. Außerdem haben wir so eine Kontrollfrage am Ende. Ob sich die Eltern sicher fühlen und genug Informationen hatten, um die Fragen zu beantworten. Die Pflegeeltern, die bis jetzt teilgenommen haben fühlen sich zu 87 % sicher, dass sie die Fragen beantworten können.
Frage: Die Kinder müssen aber zwingend zwischen 3 und 6 Jahren alt sein? Also jünger oder älter geht nicht?
Antwort: Nein. Für unsere Studie ist es schwierig, bei einer großen Vergleichsgruppe die Ergebnisse zu interpretieren, sodass sich ein Feld der 3 bis 6 jährigen herausgebildet hat.